Künstliche Intelligenz für die Physik

09.09.2019

Berlin SÜDWEST

Ein Team von Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin hat mithilfe von Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) einen grundlegend neuen Lösungsansatz für das „Sampling Problem“ in der statistischen Physik entwickelt.

Das Samplingproblem besteht darin, dass wichtige Eigenschaften von Molekülen und Materialien durch direkte Computersimulation der Bewebung ihrer Atome praktisch nicht berechnet werden können, weil die benötigte Rechenzeit selbst die Kapazitäten von Supercomputern sprengt. Dem Team gelang es, ein tiefes Lernverfahren zu entwickeln, das diese Berechnungen massiv beschleunigt und damit für viele Anwendungen erst ermöglicht. „KI verändert alle Bereiche unseres Lebens, und so auch die Art und Weise wie wir Wissenschaft betreiben,“ erklärt Dr. Frank Noé, Professor an der Freien Universität Berlin und Hauptautor einer Studie, die am Donnerstagabend in der renommierten Zeitschrift Science veröffentlicht wurde. Vor einigen Jahren sind Computer durch sogenannte tiefe Lernverfahren in der Mustererkennung genauer geworden als es menschlichen Experten möglich ist, sei es beim Lesen von handschriftlichen Texten oder der Klassifikation von Krebszellen. „Seit diesem Durchbruch ist die Forschung in der künstlichen Intelligenz rasant angestiegen, und wir sehen fast täglich neue Fortschritte in Anwendungsgebieten, in denen die Wissenschaft seit Jahren mit den traditionellen Methoden kaum weitergekommen sind. Wir glauben, dass unser Ansatz solch einen Fortschritt in der statistischen Physik bedeutet.“

Im Mittelpunkt der statistischen Physik steht die Berechnung der Eigenschaften von Materialien und Molekülen auf der Grundlage der Interaktion ihrer atomaren Bestandteile. Ermittelt werden kann auf diese Weise beispielsweise die Schmelztemperatur eines Metalls oder die Fähigkeit eines Antibiotikums, sich an die Moleküle eines Bakteriums zu binden und es damit unschädlich zu machen. Mit statistischen Verfahren können solche Eigenschaften im Computer berechnet und somit die Materialeigenschaften oder Effektivität von Medikamenten verbessert werden. Eines der Hauptprobleme bei dieser Berechnung ist der massive Rechenaufwand, führt Simon Olsson, einer der Koautoren der Studie aus: „Im Prinzip müssten wir jede mögliche Struktur, also die Anordnung aller Atome im Raum, ausprobieren, die Wahrscheinlichkeit für deren Existenz ausrechnen und dann einen Mittelwert über all diese Strukturen bilden. Doch das geht nicht, denn die Anzahl möglicher Strukturen ist selbst für kleine Moleküle astronomisch groß. Daher ist der übliche Ansatz, die dynamischen Bewegungen und Fluktuationen der Moleküle zu simulieren, um so nur ganz wenige, sehr wahrscheinliche Strukturen abzutasten. Leider sind Simulationen oft so aufwendig, dass sie nicht einmal auf Supercomputern durchgeführt werden können – das ist das Samplingproblem“.

Mit der KI-Methode von Professor Frank Noés Team ist nun ein völlig neuer Zugang zum Samplingproblem gelungen: „Statt die Bewegungen des Moleküls in kleinen Schritten zu simulieren, steuern wir die wahrscheinlichen Molekülstrukturen direkt an und ziehen sie aus der großen Menge der unwahrscheinlichen Molekülstrukturen heraus. Dann ist der Rechenaufwand gering“, erklärt Frank Noé, „KI-Methoden sind der Schlüssel dafür, das dies gelingt.“ Jonas Köhler, ein weiterer Koautor und Spezialist im maschinellen Lernen erklärt das Verfahren an einem Beispiel: „Stellen wir uns vor, wir geben einen Tropfen Tinte in eine Badewanne voll Wasser. Die Tinte zerfließt und verteilt sich. Nun wollen wir die Tintenmoleküle wiederfinden. Wenn wir das durch zufälliges Ziehen von Molekülen aus der Wanne machen wollten, wäre das sehr ineffizient, wir müssten die gesamte Wanne leeren. Stattdessen lernen wir mit KI-Methoden etwas über den Verlauf der Strömungen im Wasser, die die Tine über die Zeit verteilen mit einem invertierbaren neuronalen Netz;. mit einem solchen Netz können wir gewissermaßen die Strömung umdrehen – also sozusagen die Zeit rückwärts laufen lassen – und dann alle Tintenmoleküle im Tropfen wiederfinden, ohne den Rest der Wanne absuchen zu müssen.“

Es sind noch viele Herausforderungen zu lösen, um den von Noés Team entwickelten Ansatz für industrielle Anwendungen nutzbar zu machen. „Das ist Grundlagenforschung“, erklärt Noé, „aber es ist ein völlig neuer Ansatz für ein altes Problem, der nun die Tür für viele weitere Entwicklungen eröffnet, und wir freuen uns darauf, zu diesen Weiterentwicklungen beizutragen.“

Gefördert wurde das Forschungsprojekt vom Europäischen Wissenschaftsrat (ERC, Consolidator Grant 772230 „ScaleCell“), von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG, SFB 1114, Graduiertenkolleg 2433), vom Exzellenzcluster MATH+, von der Alexander-von-Humboldt Stiftung und vom Thousand Talents Program der Chinesischen Regierung.

Quelle: https://www.fu-berlin.de/presse/informationen/fup/2019/fup_19_255-ki-physik/index.html
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